OK Ihr wollt was zu lesen - kein Problem!
Ich poste mal meinen Artikel von 2002 zu Tina Sinatras Memoiren, in denen auch zur "Barbara-Frage" vieles gesagt wird. Warnung vorweg: Es ist deprimierend, besonders, weil es ganz offensichtlich wahr ist.
Happy reading!
Bernhard.
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DER GEFANGENE VON BEVERLY HILLS
von Bernhard Vogel
Mit Memoiren ist das ja so eine Sache. Manchen gilt ein solches Unterfangen schlechthin als Zeichen verwerflicher Eitelkeit, als Akt womöglich geschönter Selbstdar-stellung, die einem wirklich großen Charakter schlecht anstehe. Andere sagen, gerade darin liege doch der Wert solcher Bände, sich nämlich ein authentisches Bild machen zu können von einer Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen, einem langen Leben und dem daraus erwachsenen Schatz an Erfahrungen, die in die Rückschau auf Wende-punkte und Kilometersteine des eigenen Weges miteinfließen.
Nun gut, meinen wiederum andere, mag sein, vorausgesetzt, es handelt sich um jemanden, der wirklich etwas mitzuteilen und weiterzugeben hat. Letzteres verknüpft man gerne mit der “Bedeutung”, die eine Person gewonnen habe, als Zeitzeuge etwa, als Staatsmann oder als Kriegsveteran, oder auch als “großer” Künstler. Ab wann aber ist man, gemessen daran, “groß” genug?
Selbst wenn man die Beantwortung dieser Frage vernünftigerweise der lesenden Nachwelt überläßt – eigentlich lassen sich in diesem Feld nur Fehler machen. Mit Akribie werden echte und vermeintliche Kritiker darangehen, in mehr oder weniger vorwurfsvollem Ton Auslas-sungen, Umdeutungen und Erin-nerungslücken aufzuzeigen. Wer hingegen auf Autobiographisches verzichtet, der muß wohl im Zweifelsfall “etwas zu verbergen” haben, und mit Schrifttum, das dementsprechend diesem Verbor-genen nachzugehen sucht und dabei zwischen solide recherchierter Biographie und ideologisierter übler Nachrede schwankt, lassen sich leicht diverse Regalkilometer füllen.
Ob Frank Sinatra sich solche Gedanken gemacht hat, wissen wir nicht. Fest steht nur zweierlei: Erstens, der Mann hätte was zu erzählen gehabt, aber er hat es, anders als viele seiner Berufs-kollegen, für sich behalten und sich damit Achtung und Respekt bei vielen erworben – aber auch Generationen von Kolumnisten ihren Lebensunterhalt gesichert, denn, zweitens, ist über kaum einen Künstler des Showbusiness schon zu Lebzeiten soviel geschrieben und spekuliert worden wie über ‘The Voice’, die Stimme des Jahrhunderts, das Phänomen Sinatra, das dabei jenseits aller gutgemeinten Versuche unerklärlich zu bleiben scheint und gerade dadurch zu immer neuen Versuchen herausfordert. Schließlich darf es doch im gläsernen Zeitalter der globalen Informationsgesellschaft nichts unergründliches geben...
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“Sinatra: Das Schweigen ist gebrochen”, titelte die seriöse ‘Washington Post’ im Herbst ver-gangenen Jahres anläßlich der Präsentation eines neuen Buches, dessen Klappentext verspricht, der Inhalt werde “durch seine schonungslose Offenheit” sehr viele von Sinatras Fans “aufs äußerste schockieren”. Kein besonders origi-neller Aufreißer, so möchte man meinen, in einer Zeit, die uns täglich ‘schockierende Enthüllungen’ im Überfluß auf allen Explosiv-Kanälen bietet: “Gähn!” Aber sei’s drum, vielleicht kann ja ein Blick in das immerhin beim renommierten Verlagshaus “Simon & Schuster” erschienene Werk nicht schaden, zumal es sich um ein Produkt aus dem Hause Sinatra handelt: “My Father’s Daughter: A Memoir”, geschrieben von seiner jüngsten Tochter Tina (beziehungsweise wohl hauptsächlich von Ghostwriter Jeff Coplon), und wo es nunmal keine Memoiren vom Vater selbst gibt...
Wer Tina Sinatras “Erinnerungen” nach der letzten Seite wieder aus der Hand legt, der weiß zunächst mal eines mit Sicherheit: Sie haßt ihre Stiefmutter. Auf diesen Punkt kaprizierten sich auch die meisten Pressekritiken im letzten Herbst: Das Werk sei vor allem eine Abrechnung mit Barbara, Sinatras vierter und letzter Ehefrau, somit Teil der großen, unmittelbar nach Franks Tod 1998 zwischen seinen Erben ausgebrochenen Schlammschlacht, die bekanntlich bis heute diverse Gerichte in den USA beschäftigt. Nun kommt das zum einen in den besten Familien vor, zum anderen ist die Geschichte der bösen Stiefmutter und ihrer Intrigen gegen die armen Kinder spätestens seit Grimms Märchen hinlänglich bekannt. Also doch nur viel Lärm um fast nichts? Nein, so ist es nicht, und man ist vielleicht versucht hinzuzufügen: Schön wär’s. Denn das Buch ist in der Tat schockierend, wobei der Schock auch darin besteht zugeben zu müssen, daß der Klappentext ausnahmsweise einmal Recht hat, jedenfalls was den zweiten Teil betrifft... aber von Anfang an.
Christina wurde am 20. Juni 1948 geboren, ein gutes Jahr bevor Frank Sinatras stürmische Beziehung zu Ava Gardner begann. Ein Scheidungskind also – das sollte ihre Beziehung zu ihrem Vater stärker prägen, als es bei Nancy und Frank jr. der Fall war, und taucht dementsprechend als Motiv immer wieder auf. Das Buch, gegliedert in zwei Teile mit zusammen elf Kapiteln und einem Epilog, liest sich (dank der Bemühungen von Coplon?) überraschend angenehm, nicht nur weil die unpretentiöse Prosa zeitweise etwas literarisch-romanhaftes an sich hat, sondern auch, weil die einzelnen Kapitel aus vielen optisch voneinander getrennten “Splittern” sehr unter-schiedlicher Länge bestehen, also nicht der Versuch unternommen wurde, dem Ganzen eine unnatür-liche Stringenz zu verleihen, wie sie ‘Erinnerungen’ nunmal nicht haben.
Der erste Teil, “Restless Spirit”, ist recht unspektakulär, plätschert auch zuweilen etwas ermüdend dahin, ohne daß einem hier viele Neuigkeiten geboten würden. Die seltenen (oft noch in letzter Minute wieder abgesagten) Besuche Sinatras bei seiner Familie prägen die Kindheitserinnerungen, ganz ähnlich wie in den entsprechenden Abschnitten der Bücher Nancy Sinatras, die diese Momente treffend mit dem Song “The Things We Did Last Summer (I’ll remember all winter long)” verknüpfte. Aus der Rückschau, so Tina, zeige sich, das zwei Herzen in Sinatras Brust wohnten, und er sei zeitlebens hin- und hergerissen gewesen zwischen dem Verantwortungsgefühl des konservativen Patriarchen und jener Rastlosigkeit, die ihn immer wieder zu neuen Ufern, in neue Arme trieb. Viele, die Sinatra persönlich kannten, haben dies schon als Flucht vor einer tiefen inneren Einsamkeit inter-pretiert; nicht zuletzt hat sich Sinatra ja auch selbst als “hochkarätig manisch-depressiv” charakterisiert und 1951 sogar einen (inzwischen ‘offiziell’ zugegebenen) Selbstmord-versuch unternommen. Tina teilt dieses Urteil, präsentiert ihre Psychologisierungen aber angenehm zurückhaltend und weiß sie treffend in Beziehung zu Sinatras Karriere zu setzen, etwa wenn sie meint, es sei eben kein Zufall gewesen, daß ihres Vaters produktivste Zeit – zwischen 1960 und 1965 brachte Sinatra nicht weniger als 28 Plattenalben heraus, von den Filmprojekten ganz zu schweigen – genau in jene Periode fiel, als Sinatra (nach der Scheidung von Ava und der gescheiterten Verlobung mit Juliet Prowse und vor seiner Ehe mit Mia Farrow) eine private Bindung ganz fehlte: “As long as he kept working, kept moving, he might outrun his loneliness” (S. 101).
Tinas Darstellungen der Ereignisse um die Kandidatur John F. Kennedys 1960, die ihren Erfolg der von Sinatra vermittelten Unter-stützung der Mafia von Chicago verdankte, und um die Entführung ihres Bruders Frank 1962 haben als “Augenzeugenberichte” ihren Wert, ohne dabei irgendetwas Neues zu bieten; erwähnenswert aus deutscher Sicht mögen noch die kurzen Reminiszenzen der Autorin an ihren knapp dreijährigen Aufenthalt in München sein, wo sie an einigen Fernsehserien europäischer Kopro-duktion mitwirkte und an ihrem 21. Geburtstag 1969 von ihrem Vater überrascht wurde, der durch einen unangemeldeten Besuch auf einer ‘normalen’ Party für die Crew in den Bavaria-Filmstudios für helle Aufregung und kollektive Ohn-machtsanfälle sorgte.
Mit dem sechsten Kapitel betritt dann Barbara Blakeley, seit 1958 die Ehefrau von ‘Brother’ Zeppo Marx, die Bühne, und schon die Überschrift “The Climber” (etwa “der Emporkömmling”) läßt keine Zweifel an der den folgenden Abschnitten zugrundeliegenden Tendenz aufkommen; es bildet sozusagen das Vorspiel zum zweiten Teil des Buches, das Sinatras letzten beiden Lebensjahrzehnten gewidmet ist und in drastisch-zynischer Anspielung auf seinen Oscar-Erfolg von 1953 die Überschrift “From Hell To Eternity” trägt. Ein Hauptstrang dieses zweiten Teiles ist, wie eingangs erwähnt, die Geschichte der bösen verhaßten Stiefmutter. In den entsprechenden “Splittern” der folgenden Kapitel schwankt der Ton zwischen bitterer Ironie und sarkastischer Sachlichkeit, und auch wenn man diesen Akzent des Buches einfach für geschmacklos halten will, so kann man sich einer gewissen kurzweiligen Faszination doch nicht entziehen, entlockt einem mancher im Stil düsterer apokalyptischer Prophezeiungen verfaßte Satz ein Schmunzeln. Geschickt habe Barbara sich Franks Sympathien und zunächst auch die seiner Familie gesichert – hier darf der topische Einwurf “Hätte ich doch nur vorausgesehen, was passieren würde” natürlich nicht fehlen (S. 153) – und sei so zu ihrem ersten Ziel gelangt, der ‘Herrschaft’ über Frank: “[My father] finally married his mother” (S. 161) heißt es lakonisch über die Hochzeit von 1976. Fortan habe sie in seinen drei Kindern aus erster Ehe ihre gefährlichsten Konkurrenten gesehen.
Was danach über Barbara berichtet wird, ist der klassische Stiefmutter-Stoff: Nach dem tödlichen Flugzeugabsturz von Franks Mutter Dolly Sinatra habe sie deren Habseligkeiten ohne Mitwirkung der Enkel an sich gebracht, diverse Male habe sie Besuche und Telephon-kontakte der Kinder mit ihrem Vater verhindert, die (erst “in letzter Minute verhinderte”) Adoption ihres Sohnes Bobby Marx durch Sinatra betrieben, immer wieder versucht ihren Anteil an Franks Vermögen zu maximieren, und so weiter und so fort... das Ganze kulminiert in einer geradezu grotesken Szene, die sich im Mai 1998 am Ende der Totenmesse für Sinatra in der Good Shepherd Church in Beverly Hills zugetragen haben soll, als allen Anwesenden mit dem Schlußsegen in traditioneller Weise kleine metallene Kruzifixe überreicht wurden. Da einige dieser Stücke übrig waren, händigte der Erzbischof von Los Angeles, der die Zeremonie geleitet hatte, Tina auf ihren Wunsch hin ein weiteres Kruzifix aus, das ihr aber sogleich von der schräg vor ihr sitzenden Barbara energisch wieder entrissen worden sei, wobei Tina an der Hand verletzt wurde: “Looking straight ahead, just inches from my mother [Nancy sr.], less than a yard from my father’s casket, [Barbara] said: ‘No!’, with a tone of pure disdain, and she tore the cross from my hand... The befuddled cardinal handed the remaining crucifixes to Barbara... Then I realized my hand was bleeding – the metal hat sliced across my palm. I could only hope that Dad was watching [from above].”
Wenn dies alles stimmt – und es gibt keinerlei Anlaß dafür anzunehmen, Tina habe sich all diese Geschichten ausgedacht, zumal die rechtliche Seite gut dokumentiert ist und sich Sinatras Kinder trotz ihrer großen Differenzen untereinander in ihrem “dislike” für Barbara sehr einig sind – , was zum Teufel, so möchte man einwerfen, war dann eigentlich mit Sinatra los? Der Womanizer und Familien-patriarch italienischen Geblüts als Pantoffelheld in den Fängen der intriganten Gattin? Unmöglich...
Tina Sinatras Buch beantwortet diese Frage, und die Antworten sind das eigentlich schockierende, in ihrer simplen Logik und vor allem in den Entsprechungen, die sie im allgemein zugänglichen Bild-, Ton- und Printmaterial über Sinatras letzte Jahre finden. Neben den Abschnitten, in denen es haupt-sächlich um Barbara und ihre (angebliche) Raffgier geht, finden sich immer wieder Passagen, in denen Tina sehr intime Gespräche mit ihrem Vater wiedergibt und ihre Eindrücke von Besuchen in einfache Worte kleidet, ohne dabei jemals den Verdacht zu erwecken, im Sinne einer Strategie gegen Barbara bewußt zu übertreiben. Sie reichen von den Achtziger Jahren bis zu den letzten Besuchen am Bett des Sterbenden, und sind in der Tat von schonungs-loser Offenheit oder, wie es die Überschrift des siebten Kapitels in bestem Understatement sagt, “not a pretty picture”.
Der erste Teil der Antwort ist psychologischer Natur und knüpft an Sinatras schon im ersten Teil beleuchtete innere Einsamkeit an. Um 1985, wie es auch seriöse Presseberichte der damaligen Zeit mutmaßten, war Sinatras Ehe mit Barbara mehr oder weniger am Ende, er zeitweise aus dem Haus ausgezogen, und die Anwälte berei-teten die Scheidungspapiere vor. Nicht zuletzt das gespannte Verhält-nis seiner Kinder zu Barbara hatte ihn bewogen, eine Trennung in Erwägung zu ziehen, doch zum Vollzug konnte Sinatra sich nicht durchringen. Nicht schon wieder ein Heim aufgeben, nicht noch einmal, mit siebzig, allein und auf der Suche sein, so habe er sich gegenüber seiner Tochter geäußert, dabei aber versprochen darüber zu wachen, daß man sie nicht ungerecht behandele. “Doch eines”, so Tina, “vergaß er dabei, nämlich daß er einmal alt sein würde”.
Diese Schlußfolgerung überzeugt nicht nur in ihrer allgemeinen Gültigkeit für aktive Menschen – 1985 blickte Sinatra selbst auf das kommerziell erfolgreichste Jahrfünft seiner bisherigen Karriere zurück, das ihn, beginnend mit dem Album “Trilogy” und dem Mega-Hit “Theme from New York New York” unter anderem zu vier alle Rekorde brechenden Auftrittsserien in der New Yorker Carnegie Hall geführt hatte. In der Zusammenarbeit mit Vincent Falcone jr. (Sinatras Con-ductor 1978-83 und 1985/86) hatte er sein Konzertprogramm rundum erneuert, mit sovielen neuen Arrangements wie nie zuvor experi-mentiert und einen neuen Combo-Sound kreiert (freilich ohne daß daraus eine Studioplatte erwachsen wäre). Die Stimme war älter und rauher geworden, hatte die tiefe Krise der Siebziger aber hinter sich gelassen. Warum sollte er da ans Altwerden denken?
Das Alter schlug schon ein Jahr später zu: Bekanntlich rettete Anfang November 1986 nur eine Notoperation in Los Angeles Sinatras Leben, nachdem sich eine verschleppte Divertikulitis zu einer Infektion des gesamten Unterleibs ausgewachsen hatte; Teile von Magen und Darm mußten entfernt werden. Die Auswirkungen sind in Franks hagerem Gesicht bei seinem Gastauftritt in der Krimiserie “Magnum P.I.” zu ‘besichtigen’, die Anfang Januar 1987 gedreht wurde; wenige Tage nach Drehschluß mußte Sinatra erneut unters Messer und für den Rest des Jahres starke Medikamente einnehmen. Deren Folgen trug er wiederum ‘zur Schau’, man betrachte etwa die Bilder der Italien-Tournee vom Sommer 1987, die ihn angeschlagen, zwar in stimmlich akzeptabler Form, aber in teilweise verzerrendem Maße aufgeschwemmt zeigen. Mit den Nachwirkungen des Eingriffs würde Sinatra fortan leben müssen – er war nicht mehr der alte, sondern “der Alte”. Sein Lebenswille, so Tina, war nicht gebrochen, aber seine Bereitschaft, etwa sein Privatleben nochmals neu zu gestalten, tendierte gegen Null.
Ob dies der Anlaß dazu war, daß sich seine Depressionen zu verstärken begannen? Seit Ende 1988 jedenfalls, berichtet uns Tina, wurde er auf Anraten seiner (von Barbara ausgesuchten, wie Tina listig hinzufügt) Ärzte auf täglicher Basis mit einem starken Antidepressivum namens ‘Elavil’ behandelt, das nach Auskunft einschlägiger Fachlexika z.B. in Deutschland nur in Ausnahmefällen und für einen kurzen Zeitraum verordnet werden darf, wegen der starken Neben-wirkungen auf die Persönlichkeit, die laut “Beipackzettel” zu unnatürlicher Teilnahmslosigkeit, partieller Vergeß-lichkeit und kurzfristiger Desorien-tierung führen können. Die Konse-quenzen waren, folgt man den Schilderungen seiner Tochter, erbarmungslos: “Er ergab sich in sein Schicksal”. Immer öfter habe er auch im engsten Familienkreis für einige Minuten abwesend gewirkt – “fogs”, Nebel, nennt Tina diese Zustände –, sich einmal sogar auf der Heimfahrt mit dem Auto in unmittelbarer Nachbarschaft verirrt.
Die Offenlegung dieser Tatsachen wirkt deswegen besonders erschüt-ternd, weil sie mit Beobachtungen konform gehen, die sich schon immer anhand des Videomaterials über Sinatras Konzerte dieser Jahre machen ließen: Seit den letzten Konzerten des “Ultimate Event” (1988/89) wirkt Sinatra zunehmend maskenhaft, unbeweglich in seiner Mimik, und, wie sich vor allem während der “Diamond Jubilee Tour” (1990/91) zeigte, auch zunehmend unsicher in seinen Conferencen; auch die ‘Aussetzer’ im Text wurden zahlreicher. Sicherlich sollte man den Einfluß des Medikaments nicht überbewerten, auch den allgemeinen Alterungs-prozeß des mittlerweile Fünfund-siebzigjährigen bedenken, aber es bietet doch erstmals eine Erklärung dafür an, warum der Übergang vom selbstbewußten Performer zum unsicher gewordenen Schatten früherer Tage so abrupt und plötzlich erfolgte – ich selbst erinnere mich daran, diesen Kontrast deutlich gespürt zu haben, als ich Sinatra im Frühsommer 1990 nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder auf der Bühne sah, bei seinen Auftritten in den Londoner Docklands: Musikalisch war die Show ein Erlebnis, dominierte seine künstlerische Substanz, aber zwischen den Songs wirkte Sinatra mehr als einmal so, als habe er die Sache nicht recht im Griff, ganz anders als noch bei den Auftritten, die ich 1986 und 1987 in Italien erlebt hatte.
All dies verband sich, so Tina, mit zunehmenden physischen Proble-men, vor allem mit seiner stark beeinträchtigten Sehfähigkeit, die offenbar sogar sein räumliches Sehen fast unmöglich machte und ihn dazu zwangen, sein lebenslanges großes Hobby, das Malen, aufzugeben. Seine Sehschwäche führte auch dazu, daß auf den Teleprompters, auf die er sich bei seinen Konzerten zunehmend verlassen mußte, die Worte in so großer Schrift zu erscheinen hatten, daß nur noch fünf bis sechs Silben gleichzeitig auf dem Monitor Platz fanden – auch dies ließ und läßt sich bei diversen Konzerten beobachten. Wie gut Sinatra damit zurecht kam, hing von der Tagesform ab, an schlechteren Abenden, schreibt Tina über ihre Konzertbesuche, wirkte er “mechanical, programmed and disconnected” (S. 229), und nennt das Ergebnis ein “Fiasko”. Dies habe vor allem daran gelegen, daß Sinatra seine Medikamente unmittelbar nach dem Aufstehen, also üblicherweise am späten Mittag, eingenommen habe, so daß die Nebenwirkungen gerade zur “Showtime” zuschlugen. Sinatras erschreckender Auftritt bei der Grammy-Verleihung Anfang 1993 gehört wohl auch in diese Reihe, Tina saß vor dem Bildschirm und “I could tell he was in one of his fogs” (S. 238). An guten Abenden habe es trotz allem immer noch zu einem guten Konzert gereicht – und da kann man Tina nur beipflichten – , doch “behind the bustle and deadlines and applause, a spirit was dying” (S. 232).
Ich glaube zwar nicht, daß diese Bilanz in der Weise verallgemeinert werden kann, in der es manche Kolumnisten (oder neuerdings auch Teilnehmer an deutschsprachigen Internet-Foren) tun, nämlich Sinatra als orientierungsloses singendes Wrack zu bezeichnen. Dagegen sprechen viel zu viele Momente, in denen die einzigartige Musikalität und Interpretationskunst Sinatras in ihrer Zeitlosigkeit nach wie vor hörbar wurden, ja manchmal sogar unmittelbarer zu hören waren als früher, besonders in den Balladen.
Andererseits spricht nichts dagegen, seine Abhängigkeit von Antide-pressiva in den Schilderungen von Tina für bare Münze zu nehmen, zumal sie auch erklären kann, warum seine Auftritte in Europa, zum Beispiel während der Deutsch-landtournee 1993, durchweg besser waren als diejenigen zuhause: Um die Folgen des Jetlag zu mindern, schlief Sinatra, darin sind sich die hiesigen Presseberichte einig, in der Regel bis in den späten Nachmittag, nahm also später seine Pillen. Und noch etwas stärkt das Vertrauen in Tinas Darstellung: Nachdem Sinatra im März 1994 in Richmond auf offener Bühne und nochmals (wie bislang unbekannt) im August 1994 in Atlantic City unmittelbar nach Ende eines Konzertes zusammen-gebrochen war, habe man zusammen mit den Ärzten entschieden, daß Sinatra trotz des Risikos für Depressionsschübe am Tag sein Elavil künftig erst vor dem Einschlafen einnehmen solle, und die Folgen für seine Konzerte seien im positiven Sinne “dramatisch” gewesen.
Wenn man die Bänder der Konzerte von 1994 nacheinander anhört, so ist der Unterschied in der Tat frappierend: Schon in Tanglewood (31.8.) wirkt Sinatra um Längen besser als in den Monaten zuvor, gleiches gilt für seine Konzerte in Cincinatti, Houston und Dallas im September, und vor allem sein (letzter) Auftritt in Chicago am 22. Oktober, bei dem er Augenzeugenberichten zufolge so gut wie gar nicht auf seine Monitore schauen mußte, gerät zum späten Triumph, den anzuhören trotz des relativ miserablen Audience-Tapes zur Gänsehaut führt. Abgerundet wird dieser Eindruck, wenn Tina schildert, wie Sinatra Mitte November 1994 unter ihrer Regie seinen Kurzauftritt für den Film “Young At Heart” absolvierte, seine letzte Rolle, die in Toronto gedreht wurde. In Japan freilich, bei seinen letzten beiden ‘richtigen’ Konzerten, hinterließ Sinatra, zu spät zum Inter-kontinentalflug gestartet und daher völlig aus seinem Rhythmus gebracht, wiederum eher desaströse Eindrücke, die das japanische Fernsehen in seinem Zusammen-schnitt des Auftritts gnädig kaschierte.
Warum ihr Vater trotz seiner großen gesundheitlichen Probleme über-haupt weiter auf Tournee ging, mit bis zu 90 Konzerten pro Jahr, auch dafür hat Tina eine einleuchtende Erklärung: Die Bühne war ‘seine’ Bastion, die letzte, die ihm noch geblieben war, und er klammerte sich mit allen ihm verbliebenen Kräften an sein Publikum. “He had lost track of when to quit”, meint Tina mit Blick auf die einst von Sinatra gesetzten hohen Standards für eine Konzertdarbietung. Immerhin, so muß man wohl hinzufügen, gelangte Sinatra auf diese Weise in den Genuß, gerade in seinen späten Tagen allabendlich den Dank seines Publikums für seine Lebensleistung erfahren und spüren zu dürfen – das hatte er sich unzweifelhaft verdient, und es war ein großes Glück, das so vielen anderen Künstlern, allen voran der unvergessenen Judy Garland, nie zuteil geworden ist. Wenn man Tina folgt, war es sogar ein doppeltes Glück, denn die Tourneen waren “seine letzte Möglichkeit, der heimischen Isola-tionshaft zu entfliehen”. Sinatra, der Gefangene von Beverly Hills.
Die abschließenden Kapitel über Sinatras langsames Siechtum nach seinem Abschied von der Bühne sind dann wahrlich schwere Kost, gerade weil sie in Abkehr zur bisherigen Informationspolitik der Sinatra-Familie sehr offen berichten. Im März 1995 wurde Sinatras Anwesen verkauft, sein Zuhause für vier Jahrzehnte, komplett mit allem Interieur und den meisten Erinnerungsstücken, von der berühmten “John-F.-Kennedy-slept-here”-Gedenkplakette bis zur Modelleisenbahn. Zwar habe ihr Vater dem Plan ursprünglich zugestimmt, so Tina, aber als es dann soweit war, brachte er es kaum fertig. Zwei zusätzliche Monate, die der neue Besitzer großzügig gewährte, habe es gedauert, bis ihr Vater sich von seinen Sachen habe trennen können. Der Versteigerung vieler seiner Sachen im Dezember, wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag, blieb er fern. “They were dismantling his past, piece by piece, and he saw nothing to celebrate."”(S. 248).
Im neuen Heim in Foothill habe er sich nicht mehr zurecht gefunden und öfter, in seinem eigenen Wohnzimmer sitzend, gefragt, “when do we go home?”. Ein anderes Mal habe er mit seinem Roadmanager Tody Oppedisano an der Hausbar gesessen, auf den langen Flur gedeutet und gesagt, das hier sei wohl “a lousy joint”, ein mieses Lokal, nie sähe er irgend-welche anderen Gäste. Nur eine nette Anekdote? Das Schmunzeln bleibt dem Leser da rasch im Halse stecken.
Eine geradezu sterile Atmosphäre habe in Foothill geherrscht, das von Barbara möbliert erworben worden war, kein Stück der Ausstattung hatte eine Beziehung zu Sinatra. Barbara habe Sinatras Oscars und Memorabilia hinter festem Plexiglas verschwinden lassen, “aus Sicherheitsgründen”, und nicht nur die gemeinsamen Wohnräume, sondern sogar Sinatras Schlafzimmer per Video überwachen lassen. Ob dies so stimmt, muß im einzelnen nicht interessieren; jedenfalls scheinen Zweifel darüber angebracht zu sein, ob es wirklich sein ‘Zuhause’ war.
Sinatras Kräfte ließen, so wie er es immer selbst vorausgesagt hatte, alsbald nach; seit 1996 war er, schreibt Tina, immer öfter auf den Rollstuhl angewiesen. Zwar überstand er den schweren Herz-infarkt vom Januar 1997, doch erholt hat er sich davon nicht mehr: Sinatra war ein Pflegefall geworden. Manchmal, so schildert Tina, hatte er so starke Koordinationsprobleme, daß er sein Besteck nicht mehr benutzen konnte. An schwachen Tagen dämmerte er in seinem abge-dunkelten Schlafzimmer, manchmal reichte es für einen kleinen Spaziergang im Garten. Erstmals, so Tina, habe er das Verlangen gehabt, gemeinsam seine alten Filme anzuschauen, und sich bei “Guys and Dolls” über Marlon Brando amüsiert: “He still can’t sing.” Die Gespräche mit seiner Tochter kreisten immer öfter um die Vergangenheit, darum, daß er kein guter Familienvater gewesen sei und dies gern ungeschehen machen wolle, daß er sich verlassen fühle und so nicht mehr weiterleben wolle, doch noch dabei, so Tina, habe er stets versucht, seinen Stil zu wahren, zum Beispiel indem er ein weißes Kleenex in Form eines Einsteck-tuches faltete und es in seine Pyjamajacke steckte... Man hält inne beim Lesen, versucht sich diese Szene kurz vorzustellen und läßt es dann doch lieber bleiben, bevor einem die Tränen in die Augen schießen...
Genug der Nacherzählung. Erwähnt sei noch, daß eine damals heftig dementierte Meldung von Tina offiziell bestätigt wird: Anfang 1997 wurde nach massiven Beschwerden, deren blutige Details uns Tina aus kaum nachvollziehbaren Gründen leider nicht erspart, Harnröhren-krebs diagnostiziert. Am späten Nachmittag des 14. Mai 1998 erlitt Sinatra zuhause einen zweiten schweren Infarkt, dem er abends im Cedars Sinai Medical Center in Los Angeles erlag. Die Umstände, und die weltweiten Folgen, sind hinläng-lich bekannt.
Tinas Resümee fällt bitter aus. Seine Seele sei schon lange tot gewesen, nun sei ihm endlich die Flucht aus dem Diesseits gelungen:
“I believe that he was ready to go. He was so tired, and lonely, and broken. His soul had expired years before that stubborn body gave way. His future held nothing but pain.
He could never be at peace, never stop running, until he stopped.
My father did not die. He escaped.”
***
Da haben wir sie also nun, die “Wahrheit” über Sinatra und seine letzten Jahre, und können vielleicht doch nichts rechtes damit anfangen. Sinatra war, schon in jüngeren Jahren, ein einsamer Mann gewesen, jemand, der das tiefe Gefühl inneren Alleinseins mit sich nahm, wohin er auch kam und was er auch tat, in diesem Sinne Zeit seines Lebens ein Gefangener. Solange es ging, rettete er sich aus dieser Gefangenschaft durch Arbeit, Arbeit, Arbeit, auch dann noch, als ihm die Kontrolle über sein Leben und die Ergebnisse seiner Arbeit zunehmend entglitt. Der alte Sinatra war zum Schluß ein schwerkranker Mann, der Tod für ihn die reine Erlösung. Wir ahnten es, nun wissen wir es. In allen Einzelheiten. Gut so?
Als ich mit der Lektüre fertig war, habe ich mir als erstes ein Konzert angeschaut, Barcelona 1992, aus den “twilight years”, ein Abend mit nur ganz wenigen “Nebeln”, aber vielen musikalischen Sonnenstrahlen. Und zum Schluß habe ich mich gefragt: Muß man dieses Buch lesen, um “Sinatra” näher zu kommen?
Wohlgemerkt, eigene Erinnerungen muß die Lektüre nicht schmälern, nur weil es vorwiegend um die Kehrseite der Medaille geht, und sich einmal mit selbiger zu beschäftigen, ist in jedem Falle empfehlenswert. Doch eigentlich gibt es auf obige Frage keine Antwort, höchstens darauf, ob Sinatra nicht doch eine Autobiographie hätte schreiben sollen: Gottlob hat er es nicht getan und lieber noch ein paar Plattenaufnahmen gemacht, noch ein paar Konzerte gegeben. Denn in gewisser Weise gibt es Sinatras Autobiographie schon lange, in ganz unterschiedlichen Formen. Für manche besteht sie beispielsweise aus vier kurzen Zeilen und ist eigentlich gar nicht von Sinatra, sondern von Bruce Johnston, Frank hat sie nur nachgesungen, 1976 war das. “My home is deep within you/and I’ve got my own place in your soul/and now as I look out through your eyes/I am young again, even though I’m growing old.” In der Tat ist Sinatra, so werden es viele seiner Fans empfinden, so etwas wie der “Soundtrack unseres Lebens” geworden. Ob er das wollte, spielt keine Rolle. Warum er das geworden ist, schon eher...
Bereits in den Fünfziger Jahren hat ein kluger Kolumnist einmal bemerkt, man könne keine Zeile über Sinatras Musik schreiben, ohne dabei gleichzeitig über sich selbst zu schreiben. Wahrscheinlich hat er Recht: Schreiben wir also über uns.
Obwohl, mit Memoiren ist das ja so eine Sache...
© Autor und Deutsche Sinatra Society 2002.
FRANCIS ALBERT SINATRA
12.12.1915 - 14.5.1998
THERE WILL NEVER BE ANOTHER YOU
http://www.deutsche-sinatra-society.de
My Kind Of People!